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neumen:semiologia

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SEMIOLOGIA

Die Frage nach der Notation des Gregorianischen Chorals ist vielschichtig. Die Frage nach Melodie und Rhythmus ist in den gut 200 Jahren Restitutionsgeschichte immer wieder, jedoch unterschiedlich gestellt worden. Die Restitution der
MELODIE (der authentischen, oder der in den meisten Handschriften fixierten?) ist mit der Revision des GR von 1907 (eigentlich 1883) durch das GRADUALE NOVUM 2011 ff zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Die Frage nach dem
RHYTHMUS (der Artikulation) ist in einem Grundsatzstreit am Ende des 19. Jh. mangels ausreichenden Basiswissens ergebnislos in einen Dornröschenschlaf verfallen. Die Solesmenser Quadratnotation hatte, inspiriert von der Choralnotation des 15. Jh. im Anjou, das allgemeine musikalische Vorurteil des 19. Jh. etabliert, eine Neume begänne mit der ersten Note. Die Zählmethode von Solesmes behauptet, dass „alle Töne gleich lang“ seien (Aequalismus) und zwingt den Sprachrhythmus des Chorals (stylus verbo-melodico), recht unabhängig vom Text, in uninspirierte Zweier- und Dreiergruppen. Dieses a priori prägt bis heute die Rezeption! Solesmenser Editionen bilden noch immer die Basis jeder Praxis, die normative Kraft des Faktischen wirkt weiter. Auch das Graduale novum hat sich in Artikulationsfragen (Rhythmus) kaum bis gar nicht von Solesmes wegbewegt.
Die zünftige Musikwissenschaft hat sich seit der Mitte des 20. Jh. von der ohnehin rhythmisch absurden Quadratnotation verabschiedet und in eine Kügelchennotation geflüchtet (notatione al escremento di mosce), die dem Äqualismus weiter Vorschub leistet und jede rhythmische Relevanz ausschließt.

Erst mit den Erkenntnissen Eugene Cardines, Mitte des 20. Jh., hat Dornröschen begonnen aufzuwachen und der Rhythmus, besser „Artikulation“ genannt, um musikalische Vorurteile auszuschließen, ist neuerlich zum Thema geworden.

Artikulation

Neuere Ausgaben verwenden zusätzlich zu einer Quadratnotenschrift auf Linien (die Melodie festlegend) die Neumen von St. Gallen als artikulatorische Information. Die von uns verwendeten Quadratnoten sind nach den artikulatorischen Erkenntnissen aus den Neumen modifiziert, um so wenig Diskrepanz wie möglich zwischen den Neumen und den Quadratnoten zuzulassen. Damit nähern wir uns dem an, was die Semiologie nach Cardine sein soll: Lehre vom Sinn der Neumen. Ihre artikulatorische Entschlüsselung scheint fast abgeschlossen. Was Cardine mit Semiologie darüber hinaus meinte, wird wohl erst in einer Centologie, dem Vergleich der Formeln und ihrer Verwendung in sprachlicher Funktion, erreichbar sein. Das Desiderat einer an den ältesten Quellen orientierten Edition nennen wir
GRADUALE AUTHENTICUM.

✏️ NEUMA
✏️ Liqueszenz
✏️ Oriscus
✏️ Quilisma
✏️ litterae
✏️ Artikulation
✏️ Plerosis


Die Frage nach der schriftlichen Übertragung der Quellen muss aber in eine noch grundlegendere Überlegung eingebettet sein:
Was ist Gregorianischer Choral? Hier gehen die Meinungen auseinander:
Die angelsächsische Welt nennt den gesamten europäischen einstimmigen Gesang „Chant“.
Die Kontinentaleuropäer nennen „Gregorianischen Choral“ die liturgischen Gesänge der römischen Tradition. Weder der altrömische Choral, noch der altspanische Choral fallen unter diese Definition.
Die heutige Sicht ist: Die römische Liturgie wurde 754 (Papst Stephan II.) grundsätzlich in das Frankenreich übernommen, dort umgeformt und einheitlich redigiert. Man nennt das Resultat „gregorianisch“, um sich die Autorität Roms und der Tradition zu verschaffen. Für Pippin und seinen Sohn Karl (Charlemagne) war der liturgische Gesang ein wesentliches Mittel zur Sicherung der Reichseinheit. Bis Mitte des 9. Jh. hält die Karolingische Renaissance an, mit dem Ende der Dynastie (840/870) beginnt die regionale Aufspaltung.

Zu Beginn der Verschriftlichung (10. Jh. bis 1000) ist im weniger allgemeinen Repertoire, dem Offizium, bereits eine deutliche Differenzierung in westfränkische (frOc) und ostfränkische Tradition (frOr) erkennbar.
Die ostfränkische Tradition (francia orientalis) ist konservativ, sie behält die adiastematische Notation bis ins 15. Jh. bei.
Die westfränkische Tradition (francia occidentalis) zeigt schon vor der Diastemie (MR) eigenständige Weiterentwicklungen.

Die zünftige Musikwissenschaft ist beeindruckt von der Fülle der Handschriften des 12. Jh. und ihren vielfältigen Varianten (Entwicklung der Tropen, neue Heiligenfeste etc.). Wir versuchen, so weit wie möglich an die älteste (uns erreichbare) Schicht des Cantus Gregorianus heranzukommen, wir forschen nach dem „authentischen Choral“. Das bedeutet nicht, wir würden Erkenntnisse aus den Handschriften des 12. Jh. über die 2. GREGORIANIK ablehnen. Wer so singen will, soll so singen. Unser Interesse ist jedoch die AUTHENTISCHE GREGORIANIK.

Dabei führen uns die adiastematischen Neumen zu einem Musikereignis vergleichbar dem Gesang eines Chansonier, dessen Interpretation niemals auf ein Klavier reduziert werden kann, eher noch ansatzweise durch ein tastenloses Instrument (Violine) vermittelbar ist. Die Frage an die Neumen „ist das nun ein Ton oder nicht?“ reduziert das Verständnis des gesungenen Cantus Gregorianus auf ein Tastendrücken, und das dazu auch noch ohne den 'Reichtum' einer Harmonisierung!
Nicht von ungefähr „begleiten“ heute Klöster wie Solesmes ihren Choral an Festtagen mit der Orgel(!), weil sie nie über ein Quadratklötzchensingen, ein synthesizer-artiges Abklopfen von einzelnen Tönen, zugekleistert mit einer romantisch leeren Heiligkeit, hinausgekommen sind. Die Aufgabe unseres Jahrhunderts wird es sein, den Cantus Gregorianus aus seinem romantischen katholischen Pflicht-Gefängnis zu befreien und mit Hilfe der Neumen zu dem zu kommen, was uns diese Neumen vermitteln: eine der größten künstlerischen Leistungen des Abendlandes, die bis heute nicht übertroffen ist, und einen lebendigen Glauben an den im AT angekündigten Messias.

Literatur zur PALÄOGRAPHIE

Literatur zur SEMIOLOGIE

neumen/semiologia.txt · Zuletzt geändert: 2023/04/23 09:08 von xaverkainzbauer