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neumen:oriscus:oriscus

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Oriscus

griechisch: „horizein“ = begrenzen (Horizont), lateinisch = „definire“. Der Oriscus ist ein Definitionszeichen. Graphisch ist der Oriscus der liegende Achter, das Unendlichkeitszeichen in der Mathematik.

Der Oriscus ist vergleichbar einer Verkehrstafel „Achtung!“. Der Autofahrer muss aus dem Kontext erkennen, worauf er aufpassen muss. Die Achtung-Tafel (ein gleichseitiges aufrechtes Dreieck mit Rufzeichen) kann aber auch durch eine Zusatztafel erklärt werden, als Vorbereitung 100 Meter vor einer Stopptafel stehen, oder in sich selbst eine definierende Inschrift tragen (11% Gefälle!).

Ebenso verhält es sich mit dem Oriscus. Er kann an Stelle einer Neume stehen (im Pes quassus ersetzt er den ersten Strich des nkPes, meint aber den zweiten Ton), er kann aber auch eine Virga oder den Abstrich einer Clivis zusätzlich interpretieren (Virga strata und Pressus).

Der Oriscus ist ein Melodie-Hinweis-Zeichen in einer linienlosen Schrift. Sobald Linien eingeführt werden ist er überflüssig und wird missverstanden.

Solesmes liest mit den Hss der 2. Gregorianik (11.-13.Jh. und später) den Oriscus als eigenen Ton. Die normative Kraft des Faktischen: die von Solesmes besorgten Ausgaben (GR, AM) beherrschen bis heute die opinio communis (ein anderes Wort für Vorurteil).
Um richtig verstanden zu werden: für uns sind Vorurteile wesentliche Voraussetzung für Erkenntnisse, notwendig um überhaupt entscheiden zu können. Was aber landläufig als „Vorurteil“ bezeichnet wird, ist die Unfähigkeit oder der Unwille, Vorurteile zu hinterfragen und wenn nötig zu ändern. Die Beschäftigung mit den ältesten (adiastematischen) Hss und ihr Vergleich mit einer breiten Palette von Quellen des christlichen Abendlandes durch mehrere Jahrhunderte ermöglicht einen Einblick in den Wandel der gregorianischen Melodien, der vor dem digitalen Zeitalter unmöglich war.

Der Oriscus in Ch

Chartres verwendet den Oriscus auch an Stelle des Quilismazeichen.1056 bringt einige interessante Stellen, vor allem in Vergleich mit L und E.

im Salicus sehr groß

Der Oriscus als Quilisma und Pressus nebeneinander:0533

Der Oriscus vor allem ein Gliederungszeichens, das die Funktion eines Beistriches, eines Bindestriches, eines Doppelpunktes hat. So schon in den AN Typoi des 1.Modus, aber auch im GR Repertoire (cf. 0308).

Der Oriscus in Ang

verwechselbar (?) mit Bivirga

0889 OF-V1 von „Ave maria“ cf.: „virtus“ und die Clv spp im Melisma zuvor. Ang - Ch - L.

1023 OF-V2 Von „Eripe me — deus“ „meus“ Schluss sowohl Pressus Ausnahme als auch Quilisma!2x Terz-Pressus in „meae“.

der Oriscus in Bv34

zeigt den mittleren Ton eines Dreiklangs an: 1083 „sa-lo-mon“,

Der Oriscus in Solesmes

Vide AL 0360



~ Virga

Virga strata

Die ~ Virga besteht aus zwei Zeichen, einer Virga und dem Oriscus, in H verbunden, in MR getrennt notiert. Sie hat ihren Namen von der Schreibgewohnheit St.Galler Handschriften, in der Notation von Psalmrezitationen die Virgen mit mit verbundenem Oriscus flacher zu schreiben, als die reinen Virgae. Auch hier wäre ein neuer Name angebracht. Die Neume ist eine (?) Virga cum Orisco.

Die gängige Deutung der ~ Virga (opinio communis) ist eine doppelte/dreifache:

Grundsätzlich soll sie anzeigen, dass der nächste Ton tiefer ist. Das stimmt häufig, aber gar nicht so selten nicht (z.B.: 0334 „mei sunt“, 0347, 0538 „redderet animas, quas“,0168,1271,1613 )
a) Sie soll einen Halbtonpes bedeuten, tatsächlich hat sie manchmal die Aufgabe, den Halbton zu bezeichnen. Ob das als eintoniger Pes geschieht oder als kurrenter Zweitonpes bleibt offen.
b) Andererseits soll sie die Verdopplung des Tones anzeigen, an Stelle einer Bivirga. Diese zweite Deutung kann nur ein Missverständnis sein, entstanden am Übergang von der Adiastemie zu Noten auf Linien. vide IN 1203! Eine „Bivirga“ kann kaum celeriter sein. Allerdings muss sich im Westfrankenreich schon im 10.Jahrhundert das Verständnis der Virga strata als kPes = Virga urgens eingebürgert haben 0058.

Grundsätzlich ist die Deutung eines Zeichens als zwei verschiedene Neumen mehr als problematisch.

zur Virga strata

Wenn der Pressus (in St.Gallen Virga + Oriscus + tieferes Punctum) wie üblich verstanden wird a), dann kann die Virga strata ( Virga + Oriscus) nur als eine Art Bivirga verstanden werden b), warum dann nicht gleich Bivirga. Ein Pes c) ist nicht möglich, auch wenn das Gros der diastematischen Handschriften so notiert: sie interpretieren den Oriscus falsch, immer unter dem Blickwinkel eines Stilwechsels vor/um 1000 n.Chr. Mehrmals ist die Virga strata mit celeriter versehen, auch das spricht gegen die Bivirga. Bleibt nur die Deutung als Eintonneume (Virga) mit Zusatinformation, die aber außerhalb des Tönezählens liegen muß. Dazu unten.

Virga strata mit c

7413, 7411 kann kein Pes sein bei dem der erste Ton mehr als ein Portamento ist, kann aber auch kein doppelter Ton sein.

0209i-racundis“ , „gen-ti-bus“, „exalta-bis me“, aber auch „eri-pi-es me“

Virga mit Episem - mehrwertig, länger, gewichtiger
Virga mit Köpfchen (Cephalicus) - kein zweiter Ton, weich ausklingend
Virga mit Oriscus (cf.:MR, Virga strata) - melodisch/dynamischer Hinweis.


~ Virga – Funktionen

Die ~ Virga hat im Antiphonal-Repertoire vier Aufgaben:
1) Im Cento-Übergang (~ Virga mutans = ~ Vrg mut) zeigt sie, vergleichbar dem Schnipsen eines Fernseh-Regisseurs, der den Wechsel der Kameraeinstellung befiehlt, denn Beginn des nächsten Cento an.
2) Als Terzfall (~ Virga cadens = ~ Vrg cad) im klassischen Kontext der kleinen Terz verhindert sie den Durchgang „fa-mi-re“ und erzwingt den Absprung „fa-re“.
3) zeigt sie an, wenn die Melodie unter die Finalis fällt (~ Virga subfinalis = ~ Vrg sub).
4) Am Beginn einer Antiphon (~ Virga incipiens = ~ Vrg inc) fordert sie einen bestimmten Cento ein: im Protus das INC Vstr, den „Vorspann“, im Tetrardus (?)
Alles in allem erfüllt die Viga strata die Funktion eines Linienersatzes in campo aperto (diastema adiastematica).

Im Mess-Repertoire (Gradual-Repertoire) ist die ~ Virga
5) Akzent (~ Virga accens = ~ Vrg acc) meist Halbton über die Rezitationsebene hinaus.
6) resupin
7) de 2TER (~ Virga 2TER = ~ Vrg acc 2) oder

~ Virga – Dreiklang

0040 „Ecce“, 0156 7460 „Veni“ la-do-mi ➖ rezitatio re,
0061 „quare“, 0073 „ecce“ re-fa-la ➖ rezitatio sol,
0577 „rectum“, 0987 „donec“ mi-sol-si ➖ rezitatio la,
0846 „veritas“, 1771 „praedicans“ fa-la-do ➖ rezitatio si,

Wenn die Virga strata eine Eintonneume ist, und davon sind wir überzeugt, so ist die seltene Neume „Punctum - Punctum - Virga strata“ ein Dreiklang (auch wenn alle anderen adiatematischen Handschriften 4 Töne schreiben), dessen oberster Ton die Rezitationsebene übersteigt. Der Vergleich dieser 8 Fälle führt in 0846 zu einem kühnen, aber gut singbaren Tritonus-Spiel, in 0577 zu einer sinnvollen Lösung, die aus den Handschriften allein nie zu finden gewesen wäre, und im TR 0987 (der einzige Falle der auch im C belegt ist) kommt Mp zu Quellenehren wie selten, Mp schreibt Dreiklang!, wenn auch dem codex entsprechend einen F-Dur Dreiklang, statt e-moll.

↘️ ~ Virga


~ Punctum

Isolierter Oriscus

6) Sca!(~ Scandicus superans = ~ Sca+) oberer Ton eines akzentuierendes Scandicus quilismaticus. Dieser übersteigt die Rezitationsebene.

(statt Tractulus?)

In Bv34 wird der Osc benutzt, den Dreiklang „fa-la-do“ zu notieren. Er steht auf dem „la“: OF 1114 „daniél“. Siehe auch „Fontes GR“ – Beneventanische Handschriften.

↘️ ~ Punctum


~ Pes

Pes quassus

Der Oriscus meint den oberen Ton des Pes. Er steht am Ende eines Cento, sein eigentlicher Zielton wird vermieden um eine weiterführende Wirkung (Doppelpunktwirkung) zu erzielen. Damit ist er aber auch Signal für den Übergang zum nächsten Cento.

cf. unter vielen anderen 0002 „deus me-us: in te confido!“

0036 „maria“,

↘️ ~ Pes


~ Clm res

Climacus resupinus

0833 !

↘️ ~ Clm res


~ Sca+

Scandicus superans

↘️ ~ Sca+

0061 (cf.0080), 0040, 0073, 0156,


~ ClvA

Clivis + Orisco applicato

↘️ ~ ClvA

0061 (cf.0080), 0040, 0073, 0156,
0343 „ab-raam“ + „i-saak“ in beiden Fällen zeigt der applizierte Oriscus eine zweite Silbe an, die keine zweite Silbe ist: „abram + isak“


~ Circ+

Circulatio ad sol + Orisco applicato

Diese Neume gehört zu den AN des 1.Modus, sie transformiert die Rezitation „la“ herunter auf „sol“; der Oriscus etabliert eine neue, tiefere Rezitationsebene. Neumiert kommt sie im Repertoire knapp 30x vor (gesamt 73X). Fast immer leitet sie das 1INC 5Pes zum 1MED triv (3 Ausnahmen: 0090, 0203, 1562). Praktisch immer versieht H diese Neume mit celeriter, während MR ihre 10x Fälle mit der nkGraphie der Circulatio schreibt. De Oriscus als eigenen Ton notiert Ka nie!, Bv2 meist nicht, Lc mehrmals nicht.

↘️ ~ Circ+


~ Trc + Trc

Torculus + Orisco applicato + Torculo

↘️ ~ Trc + Trc


~ Pes g

Pes stratus (gallikan)

Stammt aus dem gallikanischen Repertoire

AL 0361 „In exitu israel“
AL 0365 „Iuravit dominus“
AL 0388 „Non vos relinquam“
AL 1474 „Veni sancte spiritus“
OF 1126 „Protege domine“ V.1

In aquit eine Form des Pes, die wir mit weißem ersten Ton und zusammengezogenen zwei zweiten Tönen notieren cf.: AL 1427 IN Bv (Bv39) ebenfalls einFinalformel; cf.: AL 3526

vide et AL 1472 Zt „tristitia“

↘️ ~ Pes g



Pressus

Die Unterscheidung von Pressus minor und pressus maior führt von vorneherein in die falsche Richtung. Die äußerst kluge Argumentation von GJ

Cardine S.93 Ende „Der Pressus minor befindet sich niemals isoliert über einer Silbe, sondern immer in Komposition mit anderen Neumenelementen. Die erste Note steht stets in im Gleichklang mit der vorhergehenden Note.“ André Mocqueraeau plädiert für ein Verschmelzen der des Oriscus mit der vorhergehenden Note (NM1,304ff). Cardine/Joppich argumentieren dagegen

~ Clivis

Pressus

1339 AL „Dedisti hereditatem“ zeigt die Funktion des Pressus + Pes quassus.

Mp schreibt den Pressus durch Häckchen über dem (einen) Ton, wodurch er verdoppelt (?) wird.

vide GR 0170, Mp+MR Schluss des Verses.! vide OF 500 Pressus 2 oder 3 Töne?

vide OF V2 0929 „diluvi-o“

vide OF V2 0948 „mandata tu-a“

vide AL 0873 „mundi“ - „patientia“ - „vestras“

vide RP V 7577 „Obtule-runt“ H Vergleichen mit AM(=NR)

↘️ ~ Clivis


~ Clm

Clivis-Pressus

zum Pressus

Ausgehend von den graphischen Möglichkeiten, die St.Gallen hat, um die Artikulation des Climacus (Clm) darzustellen, der erste Ton, die Virga hat den Wert der nachfolgenden Note (kurrent oder nicht kurrent : k Punktum - nk Tractulus. Um die Flüssigkeit des ersten Tons dazustellen, obwohl der zweite Ton nk (Tractulus) ist, wird die Virga (1.Ton) mit dem Tractulus (2.Ton) verbunden (Artikulation: -23). Diese Verbindung ist also selbst kein Ton. Warum soll die selbe Neume mit Oriscus an Stelle des Tractulus (2.Ton) plötzlich eine 4tonige Neume sein (1234)? Der Oriscus hat die Funktion, den letzten Ton des Climacus zu enttonen, entgegen dem Grundsatz, dass eine Neume immer mit der letzten Note aufhört / grundsätzlich endbetont ist. Der „ClivisPressus“ 1234 ist also ein Climacus auf dem zweiten Ton artikuliert und auf dem letzten enttont: 12-, oder wie in der letzten Graphie mit celeriter -2-.

↘️ ~ Clm


Nach dem isolierten Oriscus geht es nicht zwingend tiefer weiter: z.B. AL 0376 zweites „om-nes

Wc bringt in 7453 RP Laetentur caeli eine interessante Übertragung des Clivis mit nachgestelltem Oriscus „ et paupe-rum“, die unserer Interpretation des Oriscus völlig entspricht.

RP 7031 „in mór-tem“ Der iOsc etabliert neue Ténorebene „sol“.


~ Pes sbp

Pes-subpunctis-Pressus

↘️ ~ Pes sbp


~ Trc

Torculus

↘️ ~ Trc


neumen/oriscus/oriscus.1568405727.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/09/13 20:15 von xaverkainzbauer