Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


cento:centol_rp

⬅️ CENTOLOGIA

Zur Centologie der Responsorien

Der Cantus Gregorianus ist nicht Musik, er ist Sprachkunst, das heißt die Responsorien sind nicht Melodien, an die ein Text adaptiert werden muss, sie sind auch nicht Text, der im nachhinein „vertont“ werden muss. Weder ist ein Text 'an adaptable' musikalische Phrasen anzupassen, noch ist der Text in einem 'artisitc process' auskomponiert (Frere). Der gesamte Cantus Gregorianus (vielleicht abgesehen von den Gradualien) ist „in stylo verbo-melodico“ verfasst, das heißt, es gibt keine schlichten Ur-Responsorien, die im Folgenden künstlerisch angereichert werden müssten. Ist die Textstruktur schlicht und normal, so ist auch die Sprachmelodie schlicht und normal. Ist die Textstruktur ungewöhnlich, so ist es auch die Melodie. Text und Melodie bedingen sich gegenseitig, ja sie sind das Selbe.

Die Responsorien bestehen grundsätzlich aus jeweils 3 Perioden, die wieder je in zwei Teile zerfallen.
Wir nennen diese Teile Cento und benennen sie fortlaufend mit den Großbuchstaben
A - B
C - D
E - F
Die drei Perioden des Responsoriums entsprechen sehr oft den drei Schritten der Oration:
Anrede - Aussage - Bitte.
Damit zusammenhängend wiegen die Texte der 1. und 3. Periode grundsätzlich schwerer als der Text der 2. Periode. Darüber hinaus sind die Centones B und F, die Schlüsse der 1. und 3. Periode ident. In unserer Darstellung sind die beiden Centones der 2. Periode rund dargestellt, diejenigen der 1. und 3. Periode eckig.

Dominator domine / caelorum et terrae▪️
creator aquarum / rex universae creaturae tuae▫️
exaudi orationem / servorum tuorum▪️

Grundsätzlich wird immer eine dreiperiodische Struktur angestrebt, auch wenn 4 oder mehr Perioden möglich wären.

In zweiperiodischen Responsorien entfällt die 2. Periode. Meist eröffnet allerdings Cento C die letzte, nunmehr 2.Periode ( also A - B . C - F ) um die Verbindung der beiden Textteile auszudrücken. Sollen die beiden Texte von einander abgesetzt werden, so verwendet das zweiperiodische Responsorium die Centones A- B . E - F.
e.g.: 7637 vide et: 7721

Nun gibt es aber auch Texte die völlig anders strukturiert sind. Spätestens nun muss unterschieden werden zwischen der Position eines Cento und seiner sprach/melodischen Gestalt.

Manchmal sind die Texte einer Periode so lang, dass zwischen Incipit und Terminato der Periode ein weiterer Cento eingeschoben wird. Ihr Funktionsname (Positionsname) ist in der 1. Periode I, in der 3. Periode Y. In der 2. Periode kommt ein Einschub kaum vor (dann Positionsname U). Meist entsprechen die Einschübe einem der sonst üblichen Centones, wir bezeichnen sie dann mit Kleinbuchstaben, oder im Fließtext als interiectio.

Eine besondere Form speziellen Textstruktur gerecht zu werden, ist das
Interpositum (IP). In ein ansonsten 'conventional uniform' Responsorium wird eine ganze Zeile eingeschoben, die sich aber melodisch vom Rest abhebt. Damit ist dieser Text hervorgehoben und zur theologischen Hauptaussage erklärt. Ein Beispiel dafür ist der Text aus Hiob 2,10 und 1,21: 7673.

Si bona suscepimus / de manu domini▪️
mala autem / quare non sustineamus ▫️
dominus dedit . dominus abstulit . sicut domino placuit ♦️
ita factum est / sit nomen domini benedictum▪️.

Damit sind die wesentlichen äußeren Strukturen der Responsorien genannt. Ihre innere Grammatik wird in der Beschreibung der einzelnen Responsorien, der einzelnen Centones und den ihnen zugehörigen Tabellen ausgebreitet.

Drei alle Modi übergreifende Fakten seien jedoch bereits hier angesprochen: die
◼️ Haupt-CAD-Formeln, das sind die CAD-Formeln der Centones B und F ( = Ω ) sind durch das gesamte Repertoire gleich: zweisilbig, ohne Rücksicht auf Akzente, letzte Silbe Clivis zur Finalis.

CAD mega Im TR + TT vorletzte Silbe ScaSbpRes (6Töne) über die große Terz, im PR über die kleine Terz.
CAD dt Der DT benötigt wegen seiner mi-fa-Spannung eine eigene Formel: Trc mi-sol-fa, die letzte Stufe strophisch.

Eine Stufe tiefer, mit weniger Bestimmtheit, verwenden PR, TR und TT eine weitere CAD-Formel:
CAD micro Porrectus praepunctis = PorPrp, 4Töne (eigentlich ein TrcRes, dieser Name verschleiert allerdings seine Bedeutung, da der Name Trc einen leichten Anfang suggeriert.
Hier beginnen bereits die Varianten: im 1.Modus ist die CAD mikro viel häufiger als die CAD mega. Im TR verwendet der 5. Modus eine Form, die die Halbtonspannung mit einbezieht: „do-si-re-do-re“, während der 6. Modus die normale CAD mikro verwendet. Ebenfalls in PR, TR und TT gibt es seltener eine noch weniger gewichtete CSD-Formel, die
CAD mini, der CAD-Trc, wie er im Messrepertoire sehr häufig vorkommt.
Der DT kennt neben seiner CAD dt keine weiteren Abstufungen.

Die zweite allgemeine Eingenschaft des Repertoires betrifft alle CAD, nicht nur die Haupt-CAD, das
◼️ colon
Soll eine CAD-Formel nicht wirklich abschließen, sondern fragend enden, oder doch nach der Frage weiterführen, so wird im DT die Clivis fa-mi zum Pes mi-fa (strophisch mi-mi-fa; vulgo: Einklangsscandicus) umgewandelt e.g.: 7002 „omnis terra :“, 7417 „herodem :“. Ähnlich wird in den anderen Tonalitäten die Clivisbewegung umgedreht, (z.B. TT la-sol zu sol-la) e.g.: 7007 „meos :“ oder zum ScaFlx weitergeführt (sol-la-si-la) e.g.: 7044 „ignoro :“, 7003 „levavi:“.
Diese Doppelpunktformel (das Umdrehen der Clivis zum Pes) wird in den folgenden Listen aus Übersichtlichkeitsgründen nur im Text durch Doppelpunkt dargestellt und in den Noten vernachlässigt.
Es gibt weitere Möglichkeiten das colon darzustellen, diese werden an anderem Ort vorgestellt.

◼️ accentus
Variationen in der CAD-Neume, dem INCCAD (incipiens cadentiam), oder auch der prINCCAD (prae incipiens cadentiam) signalisieren, wo der Hauptakzent eines Cento liegt:
▪️ f accentus finalis. Der Hauptakzent, die Sinnspitze liegt am Ende des Cento
▪️ i accentus incipiens. Der Hauptakzent, die Sinnspitze liegt Beginn des Cento
▪️ if accentus incipiens et finalis. Sowohl am Beginn als auch am Ende des Cento liegt ein Hauptakzent, die zueinander kein Gefälle aufweisen.
Nicht alle Centones ordnen sich diesem System unter, auch die Unterscheidung PO - PPO kann entscheidend sein.


◼️ Normtext
Es ist nicht unsere Absicht den Cantus Gregorianus zu restituieren. Der Cantus hat sich über mehr als ein Jahrtausend verändert, Zeitströmungen angepasst, wurde verändert (do-Revision), angereichert (plérosis), vereinfacht (Zisterzienserreform), im Repertoire erweitert und so fort. Wir erstellten einen Normtext nach codex Hartker und versuchen einen möglichst frühen Zustand des Cantus zu fixieren.
Wir berücksichtigen die Artikulation, den Sprachrhythmus wie er (nur) aus den ältesten adiastematischen Neumen ablesbar ist.
Die bisher gängigen Transkriptionen der Melodie stützen sich hauptsächlich auf die diastematischen Quellen des 12.Jh.
Der Versuch tiefer zu schürfen führte zur Handschriftenfamilie Benevent (Rupert Fischer forderte für die Restitution des Messrepertoires immer wieder ein, im Zweifelsfall eine einzige Quelle, Benevent, anzuwenden, um nicht ein eklektisches Patchwork zu schaffen).
Die Beschäftigung mit den Responsorien und damit die Unterscheidung der westfränkischen Tradition (MR + Wc) von der konservativeren ostfränkischen Tradition (H + Ka) führte zur Erkenntnis, dass bereits Bv19 manchmal von der do-Revision beeinflusst ist. Einzig die bis in die zweite Hälfte des 20.Jh völlig vernachlässigte Handschrift Tol 44.1 tradiert weitgehend treu die Melodie der adiastematischen Quelle Hartker entsprechend. Tol 44.2 bewegt sich bereits in die selbe Richtung wie Bv19.
Über den Vergleich der Handschriften hinaus, wie er durch Tableaus möglich ist, berücksichtigen wir auch den Formelvergleich, den uns die centologische Zuordnung der MelodieTexte ermöglicht.



cento/centol_rp.txt · Zuletzt geändert: 2023/03/30 07:54 von xaverkainzbauer